Inspiration

Endlich! Harald Schmidt äußert sich nicht

Seit anderthalb Jahren warte ich darauf, dass Harald Schmidt sich nicht äußert. Nun ist es endlich dazu gekommen. Dazu muss man wissen, dass mein Entzücken über ihn weit zurückreicht. Es ging soweit, dass die Harald-Schmidt-Show der Grund für mich war, mir einen Fernseher anzuschaffen. Das muss zwischen 1996 und 1998 gewesen sein. Unvergessen für mich ist die Inszenierung des Vargas Llosa-Zitats „Das Leben ist ein Sturm aus Scheiße, und die Kunst ist ein Schirm dagegen.“ oder auch, dass der Bildschirm einfach mal dunkel blieb. Denkwürdig auch seine Gastauftritte am Bochumer Schauspielhaus in Warten auf Godot und als Vize-Vorstandsvorsitzender eines Rüstungskonzerns in Die Direktoren, aufgeführt in den Räumen der Sparkasse Bochum.

In den letzten Monaten sind die Masken so mancher Helden meiner Vergangenheit gefallen und nun endlich dieses Interview mit Harald Schmidt im Spiegel, bei dem mir ein großer Stein vom Herzen gefallen ist! Wie stabil unsere (recht einseitige) Langzeit-Beziehung immer noch ist, lässt sich auch daran erkennen, dass ich mir nach all der Propaganda dieses Magazins in den letzten Monaten (inkl. Millionenspenden der Bill and Melinda Gates Foundation) nun tatsächlich noch einmal eine Ausgabe in der Bahnhofsbuchhandlung geholt habe.

Auch in einem Interview, das ich vor 11 Jahren der Pressestelle der FernUniversität gab, habe ich Harald Schmidt die Referenz erwiesen. Dieses Interview ist tatsächlich immer noch auf YouTube abrufbar – und es hat sage und schreibe 5 Menschen gefallen!

Beckett, Tukur, Heller, Handke, Liefers, Peymann, De Niro, Bernhard, sie alle kommen vor; schnell bin ich wieder drin in der Schnittmenge unserer Universen. Seine Ausführungen zum Maßnahmen-Thema möchte ich in Abwandlung eines Daodejing-Zitats mit „Durch Nichtsagen bleibt nichts ungesagt.“ kommentieren. So äußert er sich nicht zu seinem „Impfstatus“. Stattdessen sagt er bspw. Folgendes:

 

 

 „Ich habe den Kollegen gesagt: „Ich bin auf einem guten und vernünftigen Weg, 2G zu erfüllen.“ Hinterher hieß es von vielen Seiten: „Wie meinen Sie das?“ Da frage ich zurück: Habt ihr schon mal den Namen Beckett gehört? Menschen dieser Geistesklasse kommentieren nie das eigene Werk.“

Schon lange habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, der Welt die Beckett-Postkarte zu zeigen, die jahrelang das Gewächshaus geziert hat, das neben meinem Schreibtisch stand. Voilà!

Schön auch seine Antwort auf die Frage, ob er ein Coronarebell sei:

„Das wurde definitiv nur durch die sogenannte Lügenpresse so interpretiert.“

Weiter stellt er fest, wirkliches Chaos entstehe nur durch das Befolgen von Anordnungen. Ob wohl den Spiegel-Lesern (die ja mehr wissen) auffällt, dass es sich bei dieser Aussage nicht um Satire handelt? Richtig glücklich macht er mich dann, als er auf eine Frage nach der Aktion #allesdichtmachen antwortet:

„Ein Großteil der Beteiligten hat sofort schluchzend zurückgezogen. Ich war sehr stolz auf meinen Schauspielschul-Kommilitonen Uli Tukur, der nicht zurückgezogen hat.“

Ach, Ulrich Tukur! Jetzt muss ich aufpassen, dass ich nicht ins Schwärmen gerate. Hier ist beizeiten nochmal ein eigener Post fällig (Stanislav Lem, Solaris, der Planet auf dem sich die schlimmsten Albträume der Menschen manifestieren, auf dem eine Konfrontation der Besucher mit dem eigenen Innersten stattfindet; imitiert das Leben doch die Kunst? Vor allem in den letzten 2 Jahren?; der spirituellste aller Regisseure: der Russe Andrej Tarkowski, Die versiegelte Zeit; Bonhoeffer, Widerstand oder Ergebung? …) Also, Ulrich Tukur: Wunderbar, seine Venezianischen Geschichten in Venedig gelesen zu haben! Interessant, dass er seine Frau zum Vorsprechen für Solaris geschickt hat, und seinen Hund noch nie ungeschminkt gesehen hat. Vier oder fünf Mal durfte ich ihn mit den Rhythmus Boys im Bochumer Schauspielhaus erleben.

Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys – Am Steinhuder Meer. Der Song befindet sich auf dem Album Meine Sehnsucht ist die Strandbar von 1997.

Neben Ulrich Tukur nennt Harald Schmidt auch Jan Josef Liefers. Für mich persönlich stellt das Interview, das Jan Josef Liefers aus Anlass von #allesdichtmachen einem WDR-Moderator gegeben hat, einen emotionalen Tiefpunkt und eine Erfahrung dar, die ich nie vergessen werde. Denn im Gesicht von Liefers spiegelte sich meine eigene Fassungslosigkeit und Verwirrung über die Fragen und das Framing des Moderators.

Dabei hatte ich die spontane Assoziation von Ulrich Tukur als Gibarian in Solaris, denn hier wie dort wurde die Verlorenheit mittels Distanz-Potenzierung durch den Bildschirm im Bildschirm verstärkt. Bevor dieser Post nun aber völlig aus dem Ruder läuft (Thema verfehlt?) und ich sämtliche Leser:*_Innen verliere, kehre ich besser zum HS-Interview zurück. Ein weiterer Hashtag wird thematisiert, nämlich #MeToo. Wer mich kennt, weiß, dass ich es hier mit Svenja Flaßpöhler halte, die in Die potente Frau ein Frauenbild beschrieben hat, das mir sehr zusagt. Vielleicht schreibe ich auch zu diesem Thema einmal einen eigenen Beitrag. Harald Schmidt sagt in diesem Zusammenhang:

„Vieles, was heute als Belästigung gilt, hieß früher Premierenfeier. Ich sage nicht, auf welcher Premierenfeier im Schauspielhaus Bochum eine renommierte Künstlerin nackt zu früher Morgenstunde aus der Toilette kam und schrie: „Wer will mich ficken?““

Oder auch:

„Ich „lese“ natürlich gerne Geschlechter. Das gefällt mir so wahnsinnig gut, dieses Lesen, das bringt die Gesellschaft insgesamt weiter. Wenn man nicht mehr sagt: „Hallo, was sind denn das für zwei geile Schlampen am Nebentisch?“, sondern: „Da sitzen zwei Menschen, die ich als sehr lebenslustige Frauen lese.“ Sofort ist da ein ganz anderer gesellschaftlicher Zusammenhalt.“

Ich habe einfach immer noch viel Spaß mit Schmidt!

André Heller wird auch noch erwähnt, aber der bekommt demnächst einen eigenen Beitrag.

Bildnachweise: Headerbild: Ausschnitt aus dem Programmheft des Bochumer Schauspielhauses zur Deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks Die Direktoren von Daniel Besse am 31. Mai 2002, das in meinem Fundus diverse Umzüge überlebte. Abgebildet sind oben links: Felix Vörtler als Generaldirektor Bercy, Harald Schmidt als Vize-Vorstandsvorsitzender Montparnasse; oben rechts: Schmidt und Martin Rentzsch als Finanzdirektor Odéon; unten links: Martin Horn als Vertragsdirektor Denfert. In dem Stück geht es um Ränkespiele in den Führungsetagen des fiktiven Rüstungskonzerns Delta Espace. Die Texte, die im Programmheft abgedruckt sind, lesen sich sehr interessant. Man lese nur einmal die beiden Ausschnitte, die oben abgebildet sind. Was ist Fiktion, was Wirklichkeit? Ist die Menschheit in den letzten 20 Jahren klüger geworden?

Foto der Postkarte: Samuel Beckett, Le Petit Café, Boulevard St Jacque, Paris, 1985 © John Minihan; Postkarte aus dem Verlag Neue Kritik, Frankfurt

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