Inspiration

Freiheit von Ansichten – Frieden in uns

Thich Nhat Hanh, der große buddhistische Mönch, Lehrer und Friedensaktivist ist am 22. Januar verstorben. Er war einer derjenigen spirituellen Lehrer, die die buddhistische Lehre im Westen verbreitet haben, zunächst in den USA, später in Frankreich, wo er eines der großen Meditationszentren Europas gründete, Plum Village in der Nähe von Bordeaux.

Er legte Wert auf interreligiöse Verständigung und auf einen engagierten Buddhismus, bei dem die Praxis im Alltag in Form von Begegnung, Gemeinschaft und sozialem Engagement ein besonderes Gewicht hatten. In der Lehre lag seine Betonung auf der Achtsamkeit speziell für die eigenen Gefühle. Laut Thich Nhat Hanh müssen wir zuerst Frieden in uns selbst schaffen, bevor wir Frieden in der Welt sehen können. Und um Glück und Frieden in uns selbst zu kultivieren, hilft uns die Praxis der Achtsamkeit. In einem Interview über den Klimawandel, das Thich Nhat Hanh 2013 dem Guardian gegeben hatte, hielt er mit Verweis auf die Strategien Gandhis eine Graswurzelbewegung für notwendig, um eine kollektive Verhaltensänderung herbeizuführen. Er betonte jedoch gleichzeitig, dass diese nur erfolgreich sein kann, wenn die Einzelnen sich zuerst mit ihrer eigenen Angst und Wut befassen, statt sie auf diejenigen zu projizieren, die sie als die Schuldigen betrachten.

Marsch für nukleare Abrüstung, New York City, 17. Juni 1982. Thich Nhat Hanh war 1982 in New York, um ein Meditations- und Achtsamkeitsretreat zu leiten, und alle Teilnehmer des Retreats schlossen sich gemeinsam dem Marsch an. Von links nach rechts: Lewis Richmond, Richard Baker Roshi und Thich Nhat Hanh. Einige Jahre später reflektierte Thich Nhat Hanh: „Es gab viel Wut in der Friedensbewegung. Wir sollten nicht „für“ den Frieden marschieren. Wir sollten Frieden „sein“ während wir gehen.“ [Bild und Text: plumvillage.org]

Thich Nhat Hanh mit Martin Luther King bei einer Pressekonferenz am 31. Mai 1966 im Sheraton Hotel in Chicago. Während einer Reise in die USA und nach Europa, auf der Thich Nhat Hanh für den Frieden und ein Ende des Vietnam-Konflikts warb, traf er 1966 zum ersten Mal Martin Luther King. 1967 wurde er von ihm für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. In der Folge wurde ihm sowohl von Nord- als auch von Südvietnam das Recht verweigert, nach Vietnam zurückzukehren, woraufhin er 39 Jahre im Exil verbrachte.

Für diesen Beitrag habe ich eine Übersetzung eines kurzes Video-Interviews beigefügt, in dem Thich Nhat Hanh Aspekte betont, die ich für die aktuelle Zeit besonders relevant finde, wie falsche Wahrnehmungen, Freiheit von Angst und Freiheit von Ansichten. Besonders schön finde ich es aber auch, ihm einfach nur beim Sprechen zuzusehen und zuzuhören.

Freiheit von Ansichten

Der Buddhismus spricht vom Nirvana, dem Ende allen Leidens. Nirvana bedeutet die Beendigung, das Erlöschen allen Leidens. Aber unser Leiden kommt von unseren falschen Wahrnehmungen, Avidya, Missverständnissen. Und deshalb hat die Praxis der Meditation, die Praxis des tiefen Schauens, den Zweck, falsche Wahrnehmungen von uns zu entfernen. Wenn wir in der Lage sind, unsere falschen Wahrnehmungen zu beseitigen, werden wir in der Lage sein, frei von Bedrängnissen und Leiden zu sein, die immer von falschen Wahrnehmungen herrühren.

Du hast eine falsche Vorstellung von dir selbst und vom anderen. Und der andere hat eine falsche Wahrnehmung von sich selbst und von dir, und das ist die Ursache von Angst, Gewalt und Hass. Deshalb ist der Versuch, falsche Wahrnehmungen zu beseitigen, der einzige Weg zum Frieden, und deshalb ist Nirvana in erster Linie die Beseitigung falscher Wahrnehmungen. Und wenn man falsche Wahrnehmungen beseitigt, beseitigt man das Leiden.

Wenn man tief meditiert, findet man heraus, dass sogar Vorstellungen wie Sein und Nichtsein, Geburt und Tod oder Kommen und Gehen falsche Vorstellungen sind. Wenn man die Realität in der Tiefe berühren kann, erkennt man, dass Sosein, das heißt die letztendliche Realität, frei von Geburt und Tod, von Kommen und Gehen, von Sein und Nichtsein ist. Deshalb ist Nirvana in erster Linie die Beseitigung von Vorstellungen, von Ideen, die die Grundlage für Missverständnisse und Leiden bilden.

Wenn du Angst vor dem Tod, vor dem Nichts, vor dem Nichtsein hast, dann deshalb, weil du falsche Vorstellungen vom Tod und vom Nichtsein hast. Der französische Wissenschaftler Lavoisier sagte: „Es gibt keine Geburt, es gibt keinen Tod.“ Er beobachtete einfach die Realität um sich herum und kam zu dem Schluss: „Nichts wird geschaffen, nichts geht verloren“.  

Wenn du eine Wolke anschaust, denkst du, dass die Wolke ein Wesen hat. Und später, wenn die Wolke zum Regen wird, sieht man die Wolke nicht mehr und sagt, die Wolke ist nicht da. Du beschreibst die Wolke als Nicht-Sein. Aber wenn du tief schaust, kannst du die Wolke im Regen sehen. Deshalb ist es unmöglich, dass die Wolke stirbt. Die Wolke kann zu Regen, Schnee oder Eis werden. Aber die Wolke kann nicht zu nichts werden. Und deshalb kann der Begriff des Todes nicht auf die Realität angewendet werden. Es gibt eine Transformation. Es gibt ein Fortbestehen. Aber man kann nicht sagen, dass es den Tod gibt, denn in eurer Vorstellung bedeutet Sterben, dass man von „etwas“ plötzlich zu „nichts“ wird. Von jemandem wird man plötzlich zu niemandem mehr. Und so kann der Begriff des Todes nicht auf die Realität angewendet werden, weder auf eine Wolke noch auf einen Menschen.

Der Buddha ist nicht gestorben. Der Buddha lebt durch seinen Sangha, durch seinen Dharma weiter, und man kann den Buddha im Hier und Jetzt berühren. Und deshalb sollten Vorstellungen wie Geborenwerden, Sterben, Kommen und Gehen, Sein und Nichtsein durch die Praxis des tiefen Schauens entfernt werden. Und wenn man diese Vorstellungen beseitigen kann, ist man frei und hat keine Angst. Und Furchtlosigkeit ist die wahre Grundlage für großes Glück. Solange Angst in deinem Herzen ist, kann das Glück nicht vollkommen sein.

Und deshalb ist Nirvana nicht etwas, das man in der Zukunft bekommt. Nirvana ist die Fähigkeit, die falschen Vorstellungen, die falschen Wahrnehmungen zu beseitigen, was die Praxis der Freiheit ist. Nirvana kann als Freiheit übersetzt werden: Freiheit von Ansichten. Und im Buddhismus sind alle Ansichten falsche Ansichten. Wenn du mit der Realität in Berührung kommst, hast du keine Ansichten mehr. Du hast Weisheit. Du hast eine direkte Begegnung mit der Wirklichkeit, und das kann man nicht mehr Ansichten nennen.

„Konflikt und Ungerechtigkeit entstehen in den Köpfen der Menschen. Wenn unser Geist von Ehrgeiz, Angst und Gier getrieben ist, wird soziale Ungerechtigkeit und Gewalt immer die Folge sein. Die Praxis der Achtsamkeit hilft uns, Glück und Frieden im gegenwärtigen Moment zu kultivieren. Und das ist ein wunderbarer Beitrag zum Weltfrieden und gleichzeitig die Grundlage, auf der wir unser Handeln aufbauen können.“

Thich Nhat Hanh

Bildnachweise: Headerbild: Foto von der Beisetzungszeremonie am 30. Januar 2022 in Hue, Vietnam, youtube.com/watch?v=UkrNLp7niE8 © Plum Village; ‚Marsch für nukleare Abrüstung‘ und ‚Thich Nhat Hanh mit Martin Luther King‘ © plumvillage.org

Textnachweise: das oben erwähnte Interview im Guardian: Only love can save us from climate change, The Guardian, von Jo Confino, 21.01.2013; letztes Zitat in diesem Post aus: La felicità è adesso, La Stampa, von  Claudio Gallo, 10.09.2014

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