Inspiration

Rashomon – Eine andere Antwort auf die Frage nach der Wahrheit

Es muss in den frühen 90 Jahren gewesen sein, als ich Rashomon von Akira Kurosawa zum ersten Mal sah. Ein Freund hatte mich gefragt, ob ich ihn zu einer dieser Filmvorführungen im Unicenter begleite. Eher lustlos sagte ich zu. Wir trafen uns also abends in einem Seminarraum des Filmclubs, und ich erinnere mich noch an die zusammengewürfelten Reihen wenig einladender, ausrangierter Stühle und daran, dass es in dem Raum so kalt war, dass wir unsere Mäntel anbehielten. Das sollte jedoch schnell keine Rolle mehr spielen, denn gleich die Eingangssequenzen des Films schlugen mich durch ihre Ästhetik in den Bann.

In der westlichen Filmkritik wurde Rashomon zumeist auf eine bestimmte Art und Weise gedeutet, während östliche Interpretationen eine größere Tiefe hatten. Um diesen Interpretationsunterschied soll es hier gehen. Kurosawa selbst schrieb 1981 in seiner Autobiographie, dass die westlichen Filmhistoriker Rashomon zu großen Teilen missverstanden haben. Sie glaubten, es ginge um die Subjektivität von Wahrheit. Darum ginge es jedoch nicht. Stattdessen ginge es um den Treibsand des Ego.

In dem Film geht es vordergründig um die Aufklärung eines Verbrechens, das in einem Wald stattgefunden hat und aus der Perspektive von vier beteiligten Personen vor einem Gericht geschildert wird. Diese Personen sind ein getöteter Samurai (der seine Perspektive durch ein Medium schildert), seine Frau, ein Bandit, der die beiden überfallen hat, und ein zufällig vorbei gekommener Holzfäller.

Vorspann von Rashomon

Der Film wechselt zwischen Sequenzen, die das Verbrechen im Wald aus jeweils der Sicht der vier Beteiligten darstellen, den entsprechenden Zeugenaussagen vor Gericht und einer dritten Erzählebene, auf der die moralischen Fragen um das Thema der Wahrheit thematisiert werden. Hier sprechen der Holzfäller, ein Mönch und ein Vagabund über die Ereignisse. Auf dieser Ebene beginnt der Film. Wir sehen in wunderschönen Schwarzweiß-Aufnahmen ein marodes Stadttor. (Rashomon ist der japanische Ausdruck für Stadttor; speziell handelt es sich in dieser Geschichte um das Haupt-Stadttor von Kyoto, das im Jahr 789 erbaut wurde und bis zum 12. Jahrhundert zur Ruine verkam. Am ursprünglichen Ort des Tores befindet sich im heutigen Kyoto ein Kinder-Spielplatz, auf dem ein kleines Denkmal an das Tor erinnert.) Es regnet, die Umgebung des Tores ist mit Schlamm bedeckt, die Stimmung könnte kaum hoffnungsloser sein. Im Mittelalter waren die Stadttore Orte, an denen Tote abgelegt und Neugeborene ausgesetzt wurden. Zwielichtige Gestalten trieben sich dort herum. Der Film wurde 1950, fünf Jahre nach Kriegsende, gedreht. Das Tor, an dem der Film beginnt und endet, wurde als Symbol für den Verfall der japanischen Gesellschaft und eines zerstörten Gemeinwesens nach dem Krieg interpretiert.

Eingangssequenz von Rashomon

Im Verlauf des Films hören und sehen wir die Geschehnisse im Wald aus der jeweiligen Perspektive der beteiligten Personen. Da alle auf ihre eigene Art emotional involviert sind, möglicherweise sogar selbst Schuld auf sich geladen haben, verfolgen sie bei ihrer Schilderung ihre eigenen Interessen. Jeder und jede hat die Absicht, sich selbst in einem möglichst guten Licht erscheinen zu lassen.

Die verschiedenen Perspektiven der Wirklichkeit ergeben sich also aus einer jeweils eigenen Agenda, die die entsprechende Person verfolgt, aber auch aus unbewussten Projektionen, die Illusionen erzeugen. Daher präsentiert sich die Wahrheit als relativ und höchst subjektiv. Es ist unmöglich, die eine Wahrheit zu finden. Kurosawa wurde in einem Interview gefragt, ob es möglich sei, den tatsächlichen Hergang der Geschehnisse zu rekonstruieren, wenn man den Film nur häufig und aufmerksam genug ansehen würde. Er antwortete, dass möglicherweise der Samurai tatsächlich tot sei.

Mit Bezug auf diese (eher oberflächliche) westliche Deutung des Film hat sich der Begriff Rashomon-Effekt zum geflügelten Wort entwickelt. Er beschreibt die Relativität und Subjektivität der Wahrnehmung der Wirklichkeit, bei der unterschiedliche Perspektiven auf die Welt völlig auseinanderlaufen und es nicht möglich erscheint, den einen wahren Hergang eines Ereignisses festzustellen. Diese Interpretation des Filminhalts ist zwar nicht falsch, es gibt darüber hinaus jedoch noch weitere Deutungsmöglichkeiten. Aber auch diese eher oberflächliche Botschaft der Relativität von Wahrheit ist schon eine Erkenntnis, die wir häufig in unserem Alltag vergessen, besonders bei Themen, bei denen die Meinungen sehr weit auseinander gehen, ja sich sogar unüberbrückbar scheinende Fronten bilden. Die Erkenntnis, dass es die Wahrheit möglicherweise gar nicht gibt, könnte zu einem rücksichtsvolleren Umgang mit Perspektiven der anderen führen. Insbesondere wird unsere Sicht auf die Welt von unterschiedlichen, zumeist erworbenen Ängsten geprägt, die sich aus teilweise früh zurückliegenden Erfahrungen und Konditionierungen ergeben haben. Da die gemachten Erfahrungen individuell sind, entwickeln sich auch jeweils individuelle Ängste, die unserer Ansichten stark prägen. Der eine hat vorwiegend Angst vor Krankheit, die andere vor einer Diktatur, ein Dritter vor Verarmung usw. Eine Verbreitung des Wissen um diese Zusammenhänge könnte zu mehr Verständnis füreinander führen. Das bis hier Geschilderte entspricht weitgehend den Interpretationen westlicher Filmkritik. Die größere Tiefe, die Rashomon bietet, ist erst zu verstehen, wenn man die letzten

Filmplakat aus dem Jahr 1962

Sequenzen des Films betrachtet, die häufig in westlichen Kritiken entweder gar nicht gewürdigt wurden oder sogar unverständliche Reaktionen hervorriefen, da sie in keinen Zusammenhang mit der Handlung des Films gestellt werden konnten, bis hin zu der Ansicht, Kurosawa hätte sie besser weggelassen. Auch im deutschen Wikipedia-Eintrag zum Film (in dem auch die Rolle des Holzfällers unzulänglich beschrieben wird) wird weder unter der psychologischen noch unter der philosophischen Bedeutung des Films auf das Filmende eingegangen.

Am Ende des Films befinden sich wie zu Beginn der Holzfäller, der Mönch und der Vagabund unter dem Stadttor. Nachdem sie sämtliche Versionen der Geschichte reflektiert haben, sind zumindest Mönch und Holzfäller nicht nur verwirrt, sondern sogar verzweifelt. Der Holzfäller klagt:

„Wenn der Mensch immer nur an sich denkt, dann verstehe ich auch, dass von Anfang an immer nur wahr ist, was nützt. Jeder sagte die Wahrheit, die eigene Wahrheit, die nützliche Wahrheit. Und doch lügen sie alle.“

Und der Mönch stimmt ein:

„Das Entsetzliche ist, dass es keine Wahrheit zu geben scheint. Dass ich das Vertrauen verliere. Und es ist schrecklich, das Vertrauen zu den Menschen zu verlieren. Das ist viel schlimmer als Erdbeben, Unwetter, Kriege, Seuchen und alle Übel.“

Doch plötzlich werden sie auf ein schreiendes, offensichtlich ausgesetztes Baby aufmerksam. Nachdem es noch zu einem Disput mit dem Vagabunden kommt, entscheidet sich der Holzfäller schließlich, das Neugeborene als siebtes Kind in seine Familie aufzunehmen. Am Ende geht er mit dem Baby in die aufgehende Sonne. – Und natürlich hatte es auch aufgehört zu regnen.

Akira Kurosawa am Set von Die sieben Samurai, 1954

Kurosawa beantwortet mit diesem Filmende die so brennende Frage nach der Wahrheit also nicht. Stattdessen bietet er aber eine Lösung ganz anderer Art an, eine Antwort auf eine andere Frage, nämlich auf die Frage Wie soll ich handeln? Er verweist damit die Suche nach der Wahrheit in ihrer Wichtigkeit auf den zweiten Platz nach dem Mitgefühl und der Menschlichkeit. Was diese östliche Sichtweise der westlichen voraus hat, ist die Botschaft, dass erst, wenn

der rationale Diskurs aufhört, die Chance besteht, auf einer anderen Ebene etwas zu „verstehen“ und menschlich zu handeln. Solange man sich ausschließlich innerhalb des Systems der rationalen Argumentationen bewegt, besteht wenig Hoffnung, gut und böse unterscheiden zu können. Im Gegenteil, je tiefer man sich in Argumente verstrickt, umso größer wird die Verwirrung. Wenn man sich jedoch aus dem engen System des Verstandes herausbegibt, können Lösungen auf einer ganz anderen Ebene des Menschseins sichtbar werden.

Darüber hinaus gibt es noch weitere Unterschiede zwischen westlichen und östlichen Interpretationen. So erkennt die östliche Filmkritik nicht nur die Subjektivität der Wahrnehmung als eine Deutungsmöglichkeit des Films, sondern auch den Unwillen der Protagonisten, der Wahrheit zumindest näher kommen zu wollen. Dabei wird es nicht als unmöglich erachtet, der Wahrheit näher zu kommen. Die Verweigerung, überhaupt den Versuch zu unternehmen, entstammt dabei egoistischen Motiven, etwa um das eigene positive Selbstbild aufrecht zu erhalten. Der Holzfäller entkommt durch sein Handeln zumindest ein Stück weit dem Treibsand des Ego und damit auch seiner Verzweiflung.

Ich füge noch einen Vortrag von David Makinster, Philosophie-Professor an der Central Connecticut State University, ein, der in seiner Philosopie-Einführungsveranstaltung Rashomon aus einer östlichen Interpretationsperspektive bespricht. Eine Nebenbemerkung in diesem Vortrag (19:31-20:18) übersetze ich hier, weil sie so gut in die aktuelle Zeit passt:

„Herauszufinden, was tatsächlich passiert, ist eine gewaltige Aufgabe. Ich sage nicht unmöglich. Der Wahrheit näher zu kommen, ist etwas anderes, als absolute Gewissheit zu haben. Der Wahrheit näher zu kommen, ist möglich, wenn wir uns der Aufgabe verpflichten. Aber Kurosawas Sorge ist, dass der Treibsand des Ego uns herunterzieht und wir noch nicht einmal mehr die Verpflichtung oder das Verlangen haben, herauszufinden, was die Fakten sind.

Wenn Menschen mich nach meinen politischen Ansichten fragen, pflege ich zu antworten: checke die Fakten, stelle Berechnungen an, verwende Logik, versuche, allen gegenüber fair zu sein – und du wirst das gesamte politische Spektrum verprellen!“

Bildnachweise: Headerbild: Toshiro Mifune and Machiko Kyo in Kurosawa’s Rashomon (1950), japanesefilmarchive, Flickr, CC BY 2.0; Filmplakat: Daiei © 1962; Kurosawa am Set: CC BY-NC-ND 2.0

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